OLG München: Unwirksame Ersatzzustellung durch Einlegung in den Briefkasten, wenn der Empfänger dort tatsächlich nicht wohnt

Eine Ersatzzustellung nach § 178 Abs. 1 Nr. 1 ZPO und damit auch die Möglichkeit der Zustellung durch Einlegung in einen zur Wohnung gehörenden Briefkasten gemäß § 180 ZPO ist nur möglich, wenn die Wohnung tatsächlich vom Zustellungsadressaten bewohnt wird. Zwar hat die melderechtliche An- und Abmeldung für die Frage einer zustellungsrechtlichen Wohnung regelmäßig keine unmittelbare Aussagekraft. Der Tatsache einer Abmeldung beim Einwohnermeldeamt kann aber eine indizielle Bedeutung für die Frage des tatsächlichen Wohnsitzes zukommen. Die Abmeldung kann sich als nach außen erkennbarer Akt der Wohnungsaufgabe deuten lassen.


OLG München, Endurteil v. 18.10.2017 – 7 U 530/17 (Ersatzzustellung durch Einlegen in den Briefkasten) Vorinstanz: LG München I, Endurteil vom 18.01.2017 – 22 O 770/16


Tenor

1. Auf die Berufung des Beklagten wird das Urteil des Landgerichts München I vom 18.1.2017 (Az.: 22 O 770/16) aufgehoben.

2. Die Sache wird zur anderweitigen Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten des Berufungsverfahrens, an das Landgericht zurückverwiesen.

3. Das Urteil ist vorläufig vollstreckbar.

4. Die Revision gegen dieses Urteil wird zugelassen.


Entscheidungsgründe

A. Der Kläger nimmt den Beklagten auf Schadensersatz wegen unerlaubter Handlung im Zusammenhang mit einer Kapitalanlage in Anspruch. Hinsichtlich der ursprünglichen Klaganträge wird auf die Klageschrift (Bl. 4 ff. der Akten) Bezug genommen.

In der Klageschrift ist die Anschrift des Beklagten mit G.-Str. 46 c, … R. angegeben. Zeitgleich beantragte die Klägerin die öffentliche Zustellung der Klage, weil der Aufenthaltsort des Beklagten nicht bekannt sei (Bl. 1 ff. der Akten). Mit Verfügung vom 10.2.2016 ordnete das Landgericht die Durchführung eines schriftlichen Vorverfahrens sowie die Zustellung der Klage an. Die Klage wurde laut Postzustellungsurkunde unter der genannten Anschrift in R. vom Postzusteller am 16.2.2016 in den Hausbriefkasten eingelegt. Eine Reaktion des Beklagten erfolgte (naturgemäß) nicht. Am 9.3.2016 erging Versäumnisurteil gegen den Beklagten gemäß § 331 Abs. 3 ZPO nach Klagantrag. Dieses wurde dem Klägervertreter gegen Empfangsbekenntnis am 22.3.2016 zugestellt und laut Postzustellungsurkunde wiederum unter der genannten Anschrift in R. vom Postzusteller am 22.3.2016 in den Hausbriefkasten eingelegt. Am 22.12.2016 ging ein Einspruch des Beklagten gegen das genannte Versäumnisurteil und ein Antrag auf Wiedereinsetzung in die versäumte Einspruchsfrist beim Landgericht ein.

Durch das angegriffene Urteil hat das Landgericht sowohl den Einspruch als auch den Wiedereinsetzungsantrag als unzulässig verworfen. Auf die Gründe der angegriffenen Entscheidung wird Bezug genommen. Mit seiner zulässigen, insbesondere form- und fristgerecht eingelegten und begründeten Berufung begehrt der Beklagte die Aufhebung des landgerichtlichen Urteils und die Zurückverweisung der Sache an das Landgericht.

B. Die Berufung hat Erfolg. Der Einspruch des Beklagten hätte nicht als unzulässig verworfen werden dürfen. Insbesondere ist die Einspruchsfrist gewahrt. Auf die beantragte Wiedereinsetzung in eine Versäumung der Einspruchsfrist kam es daher nicht an.

Der Beklagte hat die Einspruchsfrist nicht versäumt, weil ihm das Versäumnisurteil vom 9.3.2016 nicht ordnungsgemäß zugestellt wurde. Die „Zustellung“ vom 22.3.2016 durch Einlegung in den Hausbriefkasten ist nämlich unwirksam und konnte die Einspruchsfrist nicht auslösen, weil nach dem Prozessstoff davon auszugehen ist, dass der Beklagte zur fraglichen Zeit nicht mehr dort wohnte. Dieser Zustellungsmangel wurde nach § 189 ZPO frühestens dadurch geheilt, dass der Beklagtenvertreter am 19.12.2016 Kenntnis von dem Versäumnisurteil erlangte. Damit ist der am 22.12.2016 eingegangene Einspruch binnen der zweiwöchigen Einspruchsfrist eingegangen.

Eine Ersatzzustellung nach § 178 Abs. 1 Nr. 1 ZPO (und damit auch die Möglichkeit der Zustellung durch Einlegung in einen zur Wohnung gehörenden Briefkasten, § 180 ZPO) ist nur möglich, wenn die Wohnung tatsächlich vom Zustellungsadressaten bewohnt wird (vgl. BGH, Urteil vom 16.6.2011 – III ZR 342/09, zitiert nach juris, dort Rz. 13). Nach dem Prozessstoff ist aber davon auszugehen, dass der Beklagte am 22.3.2016 nicht mehr unter der angegebenen Anschrift in R. wohnte.

1. Der Kläger hat schon zeitgleich mit der Klage im Antrag auf öffentliche Zustellung der Klage vorgetragen, dass der Aufenthalt des Beklagten unbekannt sei und sich nicht habe ermitteln lassen (was impliziert, dass er nicht mehr unter der in der Klageschrift angegebenen Anschrift wohnte). Dem ist der Beklagte zu keiner Zeit entgegen getreten. Daher ist unstreitig, dass der Beklagte schon bei Klageerhebung und auch später nicht mehr in R. wohnte. Da die Zulässigkeit des Einspruchs zwar von Amts wegen, aber nach dem Beibringungsgrundsatz auf der Basis des unstreitigen oder bewiesenen Prozessstoffs zu beurteilen ist, ist dieser unstreitige Befund zugrunde zu legen.

2. Nichts anderes ergibt sich aus den sonstigen den Akten zu entnehmenden Befunden.

a) Die Postzustellungsurkunde vom 22.3.2016 erbringt nur Beweis dafür, dass das Versäumnisurteil in den Hausbriefkasten unter der genannten Anschrift eingelegt wurde, nicht aber dafür, dass der Beklagte tatsächlich dort wohnte.

b) Der Kläger hat als Anlagen zur Klage Meldeamtsauskünfte (wonach der Beklagte „verzogen“ ist) und eine Auskunft der gegen den Beklagten ermittelnden Staatsanwaltschaft (wonach der Aufenthalt des Beklagten dort unbekannt war) vorgelegt. Dies zwingt zu der Überzeugungsbildung, dass der Beklagte im Zustellungszeitpunkt keine Wohnung mehr unter der genannten Anschrift in R. hatte.

Zwar hat die melderechtliche An- und Abmeldung für die Frage einer zustellungsrechtlichen Wohnung regelmäßig keine unmittelbare Aussagekraft (vgl. BGH, Urteile vom 24.4.1977 – II ZR 1/76, zitiert nach juris, dort Rz. 11; vom 24.11.1977 – III ZR 1/76, zitiert nach juris, dort Rz. 11, 12). Der Tatsache einer Abmeldung beim Einwohnermeldeamt kann aber eine gewisse indizielle Bedeutung für die Frage des tatsächlichen Wohnsitzes nicht abgesprochen werden.

Maßgeblich für die Aufgabe der zustellungsrechtlichen Wohnung ist ein (für den objektiven Beobachter) nach außen erkennbarer Akt (BGH, Beschluss vom 22.10.2009 – IX ZB 248/08, zitiert nach juris, dort Rz. 21). Dabei kommt es auf die Umstände des Einzelfalles an, insbesondere Dauer der Abwesenheit, Kontakt zu den in der Wohnung Verbliebenen und Möglichkeit der Rückkehr (BGH, III ZR 1/76, a.a.O. Rz. 12).

Vorliegend lässt sich die Abmeldung als nach außen erkennbarer Akt der Wohnungsaufgabe deuten. Ferner hat der Beklagte vorgetragen, dass er sich nach Österreich abgesetzt habe, weil er sich bedroht gefühlt habe; zuvor habe er seine Familie in Sicherheit gebracht. Das spricht für eine gewisse Dauer der geplanten Abwesenheit und dafür, dass niemand in der Wohnung verblieb bzw. kein Kontakt mehr zu den in der Wohnung Verbliebenen bestand. Auch war (aus Sicht des Beklagten wegen des Bedrohungsgefühls, aus objektiver Sicht wegen des laufenden Ermittlungsverfahrens) seine Absicht und Möglichkeit der Rückkehr höchst eingeschränkt. Auch die Umstände des Einzelfalles sprechen daher für eine Aufgabe der Wohnung in R.

c) Dem Beklagten ist es auch nicht unter dem Gesichtspunkt von Treu und Glauben verwehrt, sich auf die Unwirksamkeit der Zustellung zu berufen. Ein dem Beklagten zurechenbarer Rechtsschein, etwa durch Nichtentfernung des Briefkastens oder dessen Beschriftung bei Auszug, genügt für die Annahme einer ordnungsgemäßen Zustellung nicht (BGH. Urteil vom 16.6.2011 – III ZR 342/09, zitiert nach juris, Rz. 13).

Etwas anderes könnte nur gelten, wenn der Zustellungsempfänger einen Zustellungsmangel geltend macht, obwohl er einen Irrtum über seinen tatsächlichen Lebensmittelpunkt bewusst und zielgerichtet herbeigeführt hat, etwa durch wiederholte wahrheitswidrige Bezeichnung der Zustellanschrift als seinen Lebensmittelpunkt (BGH, a.a.O. Rz. 15 m.w.Nachw.). Letzteres ist vorliegend schon deshalb nicht anzunehmen, weil sich der Kläger bei Verfahrensbeginn nicht in einem solchen Irrtum befand, wie sein Antrag auf öffentliche Zustellung zeigt.

3. Der Beklagte wurde erst am 4.7.2016 in Österreich festgenommen und befindet sich seit 7.10.2016 in Untersuchungshaft in der JVA Stadelheim. Die Problematik des Wohnsitzes eines Inhaftierten stellte sich daher am 22.3.2016 nicht.

4. Die breiten Ausführungen der Parteien zur öffentlichen Zustellung sind offensichtlich den erschwerten Bedingungen der Prozessvertretung in Massenverfahren geschuldet; im vorliegenden Verfahren stellt sich diese Problematik aber nicht. Der Kardinalfehler des Landgerichts und damit das Grundübel des vorliegenden Verfahrens liegt vielmehr gerade daran, dass das Landgericht keine öffentliche Zustellung veranlasst, sondern die Zustellung der Klage und des Versäumnisurteils unter der in der Klageschrift genannten Anschrift angeordnet hat, obwohl der Kläger von Anfang an vorgetragen hat, dass der Beklagte dort nicht erreichbar ist.

Hiernach dürfte schon die Klage nicht wirksam zugestellt und damit das Verfahren nicht rechtshängig geworden sein. Dies ändert aber nichts an der Statthaftigkeit des Einspruchs; das Versäumnisurteil ist nun einmal in der Welt und kann nur auf Einspruch beseitigt werden.

5. Vor diesem Hintergrund bleibt dem Senat nur die Zurückverweisung an das Landgericht nach § 538 Abs. 2 Nr. 2 ZPO. Ein entsprechender Antrag der Beklagtenpartei liegt vor. Das Landgericht wird zunächst zu prüfen haben, ob die Sache überhaupt rechtshängig wurde (eine ordnungsmäßige Klagezustellung kann nach den vorstehenden Überlegungen ausgeschlossen werden; eine Heilung dieses Zustellungsmangels nach § 189 ZPO ergibt sich aus den Akten nicht); gegebenenfalls ist dann zunächst die Zustellung der Klage zu veranlassen.

C. Eine Kostenentscheidung war nicht zu treffen, da die Kosten dieses Berufungsverfahrens der Kostenentscheidung in der Hauptsache folgen.

Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit folgt aus §§ 708 Nr. 10, 711, 713 ZPO.

Die Revision war nicht zuzulassen, da Zulassungsgründe (§ 543 Abs. 2 ZPO) nicht vorliegen.