BVerfG: Wenn das Amtsgericht sehendes Auges eine falsche Entscheidung trifft…
Gegen richterliche Willkür hilft die Gehörsrüge und anschließende Verfassungsbeschwerde. Denn die zu späte Verschaffung der erforderlichen Rechtskenntnisse berechtigt ein Gericht nicht, sehenden Auges falsche Entscheidungen zu treffen.
BVerfG, Beschluss vom 28.07.2014 – 1 BvR 1925/13
Leitsätze des Verfassers
1. Eine Verletzung des Willkürverbots liegt vor, wenn die Rechtsanwendung oder das Verfahren unter keinem denkbaren Aspekt mehr rechtlich vertretbar sind und sich daher der Schluss aufdrängt, dass die Entscheidung auf sachfremden und damit willkürlichen Erwägungen beruht. Dies ist der Fall, wenn die Entscheidung auf schweren Rechtsanwendungsfehlern wie der Nichtberücksichtigung einer offensichtlich einschlägigen Norm oder der krassen Missdeutung einer Norm beruht.
2. Die zu späte Verschaffung der erforderlichen Rechtskenntnisse berechtigt ein Gericht nicht, sehenden Auges falsche Entscheidungen zu treffen.
In dem Verfahren über die Verfassungsbeschwerde
der Frau V…
gegen
a) den Beschluss des Amtsgerichts Euskirchen vom 28. Mai 2013 – 17 C 160/12 -,
b) den Beschluss des Amtsgerichts Euskirchen vom 27. März 2013 – 17 C 160/12 -,
c) das Urteil des Amtsgerichts Euskirchen vom 19. März 2013 – 17 C 160/12 –
hat die 3. Kammer des Ersten Senats des Bundesverfassungsgerichts durch den Vizepräsidenten Kirchhof, den Richter Masing und die Richterin Baer am 28. Juli 2014 einstimmig beschlossen:
Das Urteil des Amtsgerichts Euskirchen vom 19. März 2013 – 17 C 160/12 – verletzt die Beschwerdeführerin in ihrem Grundrecht aus Artikel 3 Absatz 1 des Grundgesetzes und in ihren grundrechtsgleichen Rechten aus Artikel 101 Absatz 1 Satz 2 und Artikel 103 Absatz 1 des Grundgesetzes. Das Urteil wird aufgehoben. Die Sache wird an das Amtsgericht Euskirchen zurückverwiesen. Damit wird der Beschluss des Amtsgerichts vom 28. Mai 2013 – 17 C 160/12 – gegenstandslos.
Im Übrigen wird die Verfassungsbeschwerde nicht zur Entscheidung angenommen.
Das Land Nordrhein-Westfalen hat der Beschwerdeführerin die ihr im Verfassungsbeschwerdeverfahren entstandenen notwendigen Auslagen zu erstatten.
Gründe
I.
1
Die Verfassungsbeschwerde richtet sich gegen die Verurteilung der Beschwerdeführerin zu Schadensersatz wegen Sachbeschädigung gemäß § 823 Abs. 1 BGB, die Versagung von Prozesskostenhilfe und die Zurückweisung einer Gehörsrüge.
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1. Die Beschwerdeführerin und Beklagte des Ausgangsverfahrens (im Folgenden: die Beschwerdeführerin) und die Klägerin sind zwei von drei Parteien einer Wohnungseigentümergemeinschaft. Jeder Wohnung ist eine Garage zugeordnet. Die Beschwerdeführerin besprühte im Rahmen von Streitigkeiten zwischen den Parteien ein Garagendachverblendungsstück, das sich sowohl über ihre eigene als auch über die Garagenzelle der Klägerin wölbt, mit Schriftzeichen in schwarzer Farbe.
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Gegenstand des Ausgangsverfahrens war eine Schadensersatzklage der Klägerin gegen die Beschwerdeführerin, mit der diese Kosten in Höhe von 464,10 € für Malerarbeiten zur Beseitigung dieser Farbauftragungen beanspruchte.
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Die Beschwerdeführerin beantragte die Abweisung der Klage als unzulässig und unbegründet und stellte einen Antrag auf Bewilligung von Prozesskostenhilfe. Es werde die Aktivlegitimation der Klägerin bestritten, da Außenwände und Dach der Garage zwingend Gemeinschaftseigentum seien. Vorsorglich werde die Höhe des Kostenvoranschlags bestritten. Zudem sei die WEG-Abteilung des Amtsgerichts zuständig.
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2. Das Amtsgericht verurteilte die Beschwerdeführerin auf die mündliche Verhandlung vom 30. Oktober 2012 mit angegriffenem Urteil vom 19. März 2013 zur Zahlung des eingeklagten Betrages. Die Klägerin habe ihre Aktivlegitimation nachgewiesen. Das betreffende Garagendachverblendungsstück stehe nach Auffassung des Gerichts im Sondereigentum der Klägerin. Der Klägerin sei ein materieller Schaden entstanden, für welchen die Beschwerdeführerin Schadensersatz zu leisten habe. Die Höhe des Kostenvoranschlags sei unstreitig. Soweit die Beschwerdeführerin die Unzuständigkeit der Zivilabteilung rüge, sei festzustellen, dass erst im Anschluss an die mündliche Verhandlung Entscheidungen bekannt geworden seien, wonach die tragenden Teile eines auf dem gemeinschaftlichen Grundstück errichteten Garagengebäudes zum gemeinschaftlichen Eigentum gehörten, auch wenn die Garagen dem Sondereigentum nur eines Wohneigentümers zugeordnet seien. Der streitgegenständliche Sturz stelle einen Teil der Dachkonstruktion der Garage dar. Da zu diesem Zeitpunkt aber bereits streitig verhandelt worden sei, sei eine Abgabe an die nach dem Geschäftsverteilungsplan zuständige WEG-Abteilung nicht mehr möglich gewesen.
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Unter Hinweis auf dieses Urteil lehnte das Amtsgericht den Antrag der Beschwerdeführerin auf Bewilligung von Prozesskostenhilfe mit angegriffenem Beschluss vom 27. März 2013 ab.
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3. Mit Gehörsrüge vom 4. April 2013 machte die Beschwerdeführerin geltend, das Gericht habe ihren Schriftsatz vom 12. November 2012 nicht berücksichtigt. In diesem habe sie weitere Ausführungen zur Höhe des Kostenvoranschlags gemacht und Beweis angeboten. Außerdem sei ihr Vortrag, dass es sich um Gemeinschaftseigentum handele und die Klägerin nicht durch Beschluss der Gemeinschaft zur Geltendmachung des Schadensersatzanspruchs legitimiert worden sei, übergangen worden. Sie habe wiederholt darauf hingewiesen, dass richtigerweise die WEG-Abteilung zuständig sei.
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4. Das Amtsgericht wies die Gehörsrüge mit Beschluss vom 28. Mai 2013 zurück. Soweit die Beklagte mit Schreiben vom 12. November 2012 Einwendungen gegen die Schadenshöhe erhoben habe, sei festzustellen, dass dieses Vorbringen verspätet sei.
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5. Die Beschwerdeführerin rügt die Verletzung ihrer Grundrechte aus Art. 103 Abs. 1, Art. 101 Abs. 1 Satz 2, Art. 19 Abs. 4 und Art. 3 Abs. 1 GG in seiner Ausprägung als Willkürverbot.
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6. Die Klägerin und das Justizministerium des Landes Nordrhein-Westfalen erhielten Gelegenheit zur Stellungnahme. Die Akten des Ausgangsverfahrens lagen dem Bundesverfassungsgericht vor.
II.
11
Die Kammer nimmt die Verfassungsbeschwerde in dem aus dem Tenor ersichtlichen Umfang zur Entscheidung an. Ihr ist stattzugeben, weil sie unter Berücksichtigung der hinreichend geklärten Maßstäbe zu Art. 3 Abs. 1, Art. 101 Abs. 1 und Art. 103 Abs. 1 GG offensichtlich begründet ist (§ 93c Abs. 1 Satz 1 in Verbindung mit § 93a Abs. 2 Buchstabe b BVerfGG).
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1. Das angegriffene Urteil verstößt gegen Art. 3 Abs. 1 GG in seiner Ausprägung als Willkürverbot.
13
Eine Verletzung des Willkürverbots liegt vor, wenn die Rechtsanwendung oder das Verfahren unter keinem denkbaren Aspekt mehr rechtlich vertretbar sind und sich daher der Schluss aufdrängt, dass die Entscheidung auf sachfremden und damit willkürlichen Erwägungen beruht (vgl. BVerfGE 80, 48 <51>; 83, 82 <84>; 86, 59 <63>). Dies ist der Fall, wenn die Entscheidung auf schweren Rechtsanwendungsfehlern wie der Nichtberücksichtigung einer offensichtlich einschlägigen Norm oder der krassen Missdeutung einer Norm beruht (vgl. BVerfGE 87, 273 <279>).
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Dies ist vorliegend der Fall. Das Gericht hat bei der Feststellung der Aktivlegitimation der Klägerin § 5 Abs. 2 WEG als offensichtlich einschlägige Norm nicht berücksichtigt. Diese Vorschrift regelt, dass tragende Teile eines Gebäudes nicht Gegenstand von Sondereigentum sein können. Darunter fällt auch die Dachkonstruktion einer Garage, die im Sondereigentum steht (vgl. OLG Düsseldorf, Beschluss vom 5. November 2003 – I-3 Wx 235/03 + 240/03 – DNotZ 2004, S. 630; Heinemann, in: Ring/Grziwotz/Keukenschrijver, BGB Sachenrecht, 3. Aufl. 2013, § 5 WEG Rn. 9). Der Schadensersatzanspruch hätte deshalb nur von der Wohnungseigentümergemeinschaft geltend gemacht werden können. Dass es sich bei dem streitgegenständlichen Dachverblendungsstück um Gemeinschaftseigentum handelt und deshalb die WEG-Abteilung des Amtsgerichts zuständig gewesen wäre, stellt das Amtsgericht auch später in der angegriffenen Entscheidung fest. Ein sachlicher Grund, dennoch die Aktivlegitimation der Klägerin zu bejahen, ist nicht ersichtlich. Die hierfür gegebene Begründung des Amtsgerichts, dass es die Zuständigkeit der WEG-Abteilung erst nach der mündlichen Verhandlung erkannte und bis dahin in Unkenntnis der einschlägigen Rechtsprechung war, ist nicht nachvollziehbar. Die zu späte Verschaffung der erforderlichen Rechtskenntnisse berechtigt ein Gericht nicht, sehenden Auges falsche Entscheidungen zu treffen.
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2. Es liegt weiterhin ein offensichtlicher Verstoß gegen Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG vor, da keine Abgabe an die nach Geschäftsverteilungsplan zuständige WEG-Abteilung des Amtsgerichts erfolgte.
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3. Das Urteil verstößt gegen Art. 103 Abs. 1 GG, indem das Amtsgericht den Vortrag der Beschwerdeführerin, mit dem diese die Kostenhöhe bestritt, offensichtlich nicht zur Kenntnis nahm und bei seiner Entscheidung nicht berücksichtigte.
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4. Das Urteil des Amtsgerichts ist gemäß § 93c Abs. 2 in Verbindung mit § 95 Abs. 2 BVerfGG aufzuheben. Die Sache ist an das Amtsgericht zurückzuweisen. Der ebenfalls angegriffene Beschluss über die Anhörungsrüge wird damit gegenstandslos. Hinsichtlich des Beschlusses des Amtsgerichts über die Versagung von Prozesskostenhilfe, wird die Verfassungsbeschwerde nicht zur Entscheidung angenommen. Von einer Begründung wird insoweit nach § 93d Abs. 1 Satz 3 BVerfGG abgesehen.
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5. Die Entscheidung über die Erstattung der notwendigen Auslagen der Beschwerdeführerin folgt aus § 34a Abs. 3 BVerfGG.